REISEBERICHT                                    Zurück zu den Bildern


Unsere Reise nach Schlesien 1998

Die Vorgeschichte

Die Familie meines Vaters stammt aus Habelschwerdt in der Grafschaft Glatz in Schlesien. Er war dort aufgewachsen und hatte den Beruf des Uhrmachers gelernt. Danach war er, wie damals nicht unüblich, auf Wanderschaft gegangen und hatte sich, nach mehreren Zwischenstationen, in Südwestdeutschland niedergelassen. Dort hatte er seine Frau kennengelernt und eine Familie gegründet.

Im Mai 1944, war meine Mutter mit meinem Bruder und mir wegen der ständigen Gefahr von Luftangriffen in Südwestdeutschland in das von jeglichen Feindeinwirkungen noch unbehelligte Schlesien übergesiedelt. Wir waren in Habelschwerdt in der Grafschaft Glatz bei einer Schwester meines Vaters untergekommen. Die Tante bewohnte mit ihrer Familie eine Dreizimmerwohnung in einem Mehrfamilienhaus.

Die Wohnung lag sehr schön in der von Bäumen bestandenen Friedrichstraße, nicht weit vom Zentrum des kleinen, alten Städtchens. Vor dem Haus gab es einen kleinen Vorgarten, hinten war ein Obst- und Gemüsegarten. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite befanden sich das Amtsgericht, das Kino und die Gürth-Villa, ein herrschaftliches Mehrfamilienhaus, welches ein Jahr später unter den Polen die wohl am meisten gefürchtete Adresse im weiten Umkreis wurde.

Aber noch war es nicht soweit. Schlesien und die Grafschaft Glatz lagen wie im tiefsten Frieden, wenn man einmal von den indirekten Einwirkungen des sechsten Kriegsjahres wie dem täglichen Wehrmachtsbericht, der Lebensmittelrationierung usw. absah. Und Fliegeralarm gab es während des ganzen Sommers höchstens zwei- oder dreimal, soviel etwa wie zuhause an einem Tag. Wir konnten daher unbehelligt Ausflüge in die nähere und weitere Umgebung unternehmen. So besuchten wir damals mit unseren Verwandten die Stadt Glatz, die Badeorte Altheide, Reinerz und Kudowa, die Wallfahrsorte Wartha und Maria Schnee, waren bei den Adersbacher Felsen und wanderten auf den Glatzer Schneeberg.

Schule Natürlich ging ich auch in die Schule. Ich wurde in eine vierten Klasse eingewiesen, die mit etwa 60 Schülern bereits hoffnungslos überfüllt war. Aber in einer der langen Bänke mußte eben zusammengerückt werden, sodaß ich noch Platz fand. Als meine Mutter nach einigen Wochen beim Klassenlehrer vorsprach, um zu hören, ob ich mich gut eingelebt hätte, konnte er sich kaum an mich erinnern, kein Wunder bei so vielen Schülern. Er versprach, nun ein besonderes Auge auf mich zu richten und so hatte ich von diesem Tag an keine ruhige Minute mehr. Ich wurde ständig abgefragt und mußte an der Tafel rechnen und schreiben. Am Ende des Schuljahres bekam ich dann noch ein recht gutes Zeugnis.

Freibad Der Sommer 1944 war besonders schön, ich kann mich nicht erinnern, daß es damals geregnet hatte. So war fast immer Freibadwetter und ich besuchte regelmäßig das schön gelegene Bergbad auf dem Florianberg. Leider wurde die Kriegslage im Osten zunehmend bedrohlicher, die Russen waren schon fast bis Warschau vorgedrungen. So beschloß meine Mutter Ende August 1944 mit uns Kindern wieder nach Pforzheim zurückzukehren, wo mein Vater in der Rüstungsindustrie arbeitete.

Luftbild Wir verließen das friedliche Habelschwerdt Ende August 1944 mit gemischten Gefühlen und kehrten in den unruhigen Südwesten zurück, wo der unbarmherzige Luftkrieg gerade erst richtig begann. Trotzdem muß man die damalige Entscheidung als glücklich bezeichnen. Nur einige Monate später wäre aus der planmäßig verlaufenen Rückkehr wahrscheinlich eine abenteuerliche Flucht geworden. Oder wir hätten den Einmarsch der Russen erlebt und die nachfolgende Besetzung durch die Polen mit allen ihren Grausamkeiten und der anschließenden menschenunwürdigen Vertreibung.

Seither war ich nicht mehr in Schlesien gewesen. Obwohl ich damals, 1944, erst zehn Jahre alt war, kann ich mich an vieles noch sehr gut erinnern. Daher war der Wunsch, Schlesien, die Grafschaft Glatz und nicht zuletzt Habelschwerdt wiederzusehen, verständlich. Bis etwa 1990 war die Durchreise durch die DDR oder die Tschechoslowakei schwierig und viel Papierkrieg erforderlich. Aber auch danach war die Reise noch mit Risiken verbunden, vor allem waren die Verhältnisse in diesem Teil Polens nicht genügend bekannt. Hinzu kamen dann noch die Sprachprobleme.

Inzwischen, im Sommer 1998, waren 54 Jahre seit unserem Aufenthalt in Habelschwerdt vergangen. Da ergab sich die Gelegenheit, mit dem Bus von der Nähe unseres Wohnortes bis in die Grafschaft Glatz zu fahren. Sowohl die Organisatorin der Reise, eine Schlesierin, als auch die Busgesellschaft hatten bereits mehrere Fahrten dorthin durchgeführt. Wir, meine Frau und ich, entschlossen uns zu reisen.

Die Reise nach Schlesien

Am 19. August 1998 abends gegen 19 Uhr fahren wir in Unterreichenbach bei Pforzheim ab. Die Reise geht glatt vonstatten, das Busfahrer-Ehepaar wechselt sich von Zeit zu Zeit ab. An der deutsch-tschechischen (Waidhaus/Rozvadov) und an der tschechisch-polnischen Grenze (Nachod/Kudowa) gibt es jeweils ca. 40 Minuten Aufenthalt. Am frühen Morgen des 20. August kommen wir wohlbehalten, aber etwas müde in Bad Altheide (jetzt: Polanica Zdroj) an. Da nicht alle 30 Mitreisenden (von 9 bis 90 Jahren) in der Pension Miranda Platz finden, kommen wir in der nahegelegenen und neu eröffneten Pension Panorama unter. Frühstück und Abendessen ist für alle gemeinsam..

Donnerstag, 20.8. An diesem Tag haben wir uns in Altheide umgeschaut. Anfang Juli hatte es dort ein verheerendes Hochwasser gegeben. Alle Straßenbrücken bis auf eine sind von den Fluten der Reinerzer Weistritz (Bystrzyca Dusznicka) weggerissen worden und nur zwei weitere Übergänge können von Fußgängern passiert werden. Einige Gebäude sind eingestürzt und werden gerade abgerissen. Bei vielen Häusern im Bereich des Baches ist das untere Stockwerk unbewohnbar geworden. Die noch sichtbaren Spuren lassen einen Wasserstand von zwei Metern in den Erdgeschossen erkennen. Auch die Fußgängerzone hat stark gelitten, Straßen und Gehwege sind aufgerissen und weggeschwemmt. Überall wird aufgeräumt, repariert, gepflastert. Da das Hochwasser ganz plötzlich in der Nacht kam, konnten die betroffenen Bewohner nur wenig retten. Zum Glück sind die Kuranlagen und ein Teil der Fußgängerzone mit einigen kleinen Geschäften, Bistros und Restaurants unversehrt geblieben.

Freitag, 21.8. Wir fahren mit unserem Bus nach Glatz (Klodzko), wo wir an einem Stadtrundgang mit unserem polnischen Reiseführer Marko teilnehmen. Danach geht es weiter nach Ullersdorf (Oldrzychowice) zu den katholischen Schwestern, denen wir einige Säcke mit Kleidung mitbringen. Die Oberin, die gut deutsch spricht, sagt, daß die Schwestern immer noch Familien betreuen, die beim großen Hochwasser 1997 alles verloren haben. Danach fahren wir über Bad Landeck (Ladek Zdroj) und Seitenberg (Stroni Slaskie) nach Wölfelsgrund (Miedzygorze). Der nach dem Hochwasser etwas verkleinerte Wasserfall ist immer noch sehenswert. Zurück geht es dann über die Sudetenstraße (Sudecka) entlang des Habelschwerdter Gebirges nach Bad Altheide.

Samstag, 22.8. An diesem Tag steht eine Fahrt zu den Adersbacher Felsen (Adrspach) auf dem Programm. Dieses Ziel liegt auf der westlichen Seite der Sudeten und so müssen wir die polnisch-tschechische Grenze überqueren. Am Grenzübergang herrscht reger Fußgänger- und Autoverkehr. Polen kaufen auf der tschechischen Seite Spiritousen, Tschechen decken sich in Polen mit Zigaretten und Textilien ein. Am Eingang zur Adersbacher Felsenstadt erwartet uns ein Parkführer, der gut deutsch spricht und in humorvoller Weise seine Erklärungen zu den verschiedenen Felsformationen abgibt. Schließlich gelangen wir zu dem angestauten kleinen See, auf dem eine Bootsfahrt stattfindet. Vom See aus wandern wir auf einem halsbrecherischen Pfad nach Wekelsdorf (Teplice), wo uns der Bus wieder abholt. Diese Wanderung ist vor allem bei nassem Wetter nicht empfehlenswert, da der Weg sehr ungepflegt ist.

Sonntag, 23.8. Der Sonntag steht zur freien Verfügung. Wir unternehmen mit einigen Reiseteilnehmern, die aus Rückers (Szczytna) stammen, einen Ausflug dorthin. Wir besuchen zuerst die Kirche, die wir zwischen zwei gut besuchten Gottesdiensten besichtigen können. Alles ist in sehr gutem Zustand, im Gegensatz zu vielen anderen Gebäuden und den meisten Wohnhäusern. An der Außenwand der Kirche finden wir den gut erhaltenen Gedenkstein für einen Bruder meines Großvaters, der als Pfarrer in Rückers gelebt hatte und 1923 dort beerdigt worden war. Auf dem Rückweg haben zwei unsere Mitwanderer ihre Elternhäuser aufgesucht und den darin wohnenden Polen einen Besuch abgestattet, von denen sie freudig begrüßt werden.

Montag, 24.8. Ein ziemlich trüber Regentag. Trotzdem fahren wir mit unserem Bus zunächst nach Schweidnitz (Swidnica), wo wir die archtektonisch interessante evangelische Friedenskirche besichtigen, die nach dem Ende des Dreißigjährigen Krieges als Holzkirche errichtet wurde. Anschließend fahren wir nach Schreiberhau (Szklarska Poreba) ins Riesengebirge (Karkonosze). Wir wollen mit dem Sessellift auf den Reifträger (Szrenica), der Lift ist aber wegen des schlechten Wetters nicht in Betrieb. So geht es nach Hirschberg (Jelenia Gora), wir machen einen kleinen Stadtbummel zum Ring (pl.Ratuszowy) und seinen sehenswerten, frisch restaurierten Giebelhäusern mit ihren Arkaden. Weiter geht es über Neurode (Nowa Ruda) zurück nach Altheide. Am Abend besuchen wir die Wallfahrtskirche in Albendorf (Wambierzyce), die von ihrer Pracht nichts eingebüßt hat und vor allem bei abendlichen Beleuchtung sehenswert ist.

Dienstag, 25.8. Dies ist unser Habelschwerdt-Tag. Wir fahren mit dem Linienbus nach Glatz und von dort weiter nach Habelschwerdt (Bystrzyca Klodzka). Um 11 Uhr sind wir dort. Gleich um die Ecke haben wir die Gürth-Villa und das Haus Friedrichstraße fotografiert Dann gehen wir die Alte Gartenstraße (ul. Wojska Polskiego) mit einer schönen Blumenanlage gegenüber der alten, immer noch eindrucksvollen Gebäude der Volksschule entlang zur Glatzerstraße (ul.Andzeja Okrzeji). Der untere Teil dieser Straße macht einen sehr verwahrlosten Eindruck, im oberen gibt es einige kleine, teilweise modern eingerichtete Geschäfte mit winzigen Imbissecken. Nach dem Besuch des Feuermuseums (Muzeum Filumenistyczne) haben wir uns auf einer Sitzbank am Bahnsteig des Stadtbahnhofs mit unserem mitgebrachten Imbiss gestärkt. Weiter zum Mittelpunkt der Stadt, dem Ring (ul. Plac Wolnosci) mit dem eindrucksvollen, außerlich schön hergerichteten Rathaus in der Mitte des großen, rechteckigen Platzes. Am Ring gibt es einige Geschäfte, Buchhandlung, Apotheke, Lebensmittel, Textilien und sogar ein akzeptables Restaurant, das aber offensichtlich um diese Tageszeit nicht mit Gästen rechnet. Dann durch das Willmanntor den Stadtberg hinunter zur Unterstadt, wo die neu errichtete Neissebrücke fast fertig ist. Die alte Brücke war durch das Hochwasser 1997 zerstört und durch einen provisorischen Fußgängersteg ersetzt worden. Wir gehen anschließend noch in Richtung Wustung (Lesna), von einer Wiese auf der Anhöhe machen wir einige schöne Photos vom Stadtpanorama. Auf dem Rückweg gehen wir die Weistritzstrasse (ul. Bystrzycka) hinauf, wieder zum Ring. Wir werfen noch einen Blick in die Kath. Pfarrkirche, deren Eingang aber mit Gittern verschlossen ist. Leider wird die Zeit knapp, denn um 18 Uhr sollen wir wieder in Altheide zum Abendessen sein. Die vier Stunden in Habelschwerdt waren ein großes Erlebnis, zumal wir an diesem Tag herrliches Wetter hatten. Ich habe mich überall gut zurechtgefunden und vieles nach so langen Jahren wiedererkannt.

Mittwoch, 26.8. Ausflug zur Hohen Eule (Gory Sowa), bei trübem, aber meist trockenem Wetter. Nach einer längeren Wanderung mit einem polnischen, gut deutsch sprechenden Wanderführer durch den dichten Wald erreichen wir den höchsten Punkt mit dem Aussichtsturm. Da es ziemlich neblig ist, verzichten wir auf den Turmaufstieg und kaufen stattdessen einige Ansichtskarten. Nach der Rückkehr zum Bus hat unser Busfahrer-Ehepaar in einer Waldhütte ein Picknick mit Kaffee und schlesischem Heidelbeer- und Mohnkuchen vorbereitet.

Donnerstag, 27.8. Auf allgemeinen Wunsch gibt es eine Fahrt mit unserem Reisebus nach Breslau (Wroclaw). Dort zu Fuß über die Schweidnitzer Straße (Swidnicka) zum Ring (Rynek) und weiter zur Universität (Uniwersytet) und zur Markthalle. In einer Buchhandlung kaufen wir ein deutschsprachiges Buch über das Riesengebirge. Breslau macht von allen besuchten Orten den westlichsten und den gepflegtesten Eindruck. Es ist erstaunlich, wieviel von der alten Bausubstanz noch vorhanden oder wiederhergestellt ist. Zum Schluß besuchen wir noch das Olympiastadion (Stadion Olimpijski) von 1936 und die gut erhaltene Jahrhunderthalle (Hala Ludowa), in der gerade eine Verkaufsausstellung für Baumaterial stattfindet.

Freitag, 28.8. Der letzte Tag steht wieder zur freien Verfügung. Wir fahren mit dem Linienbus nach Glatz und besuchen dort zuerst den Markt. Es gibt dort alles zu kaufen, was man sich denken kann, Obst, Gemüse, Lebensmittel, Getränke, Porzellan, Kleidung, Schuhe, Elektroartikel und vieles mehr. Außer ein paar Tschechen und Deutschen gibt es nur einheimische Polen, die dort einkaufen. Es folgt ein Stadtbummel durch die Altstadt mit einem Abstecher zur Festung. Am frühen Nachmittag zurück nach Altheide, wo wir uns auf die Rückreise vorbereiten.

Samstag, 29.8. Früh um 5 Uhr ist Abfahrt. Jeder erhält ein kleines Lunchpaket für unterwegs. Wir fahren jetzt bei Tag über Kudowa - Prag - Pilsen - Waidhaus - Nürnberg nach Unterreichenbach (zwischen Bad Liebenzell und Pforzheim), wo wir um 18 Uhr ankommen. Es ist die gleiche Strecke wie bei der Hinfahrt, etwa 700 km.

Die Zusammenfassung

Die Reise nach Schlesien war für uns ein wertvolles Erlebnis. Wir sind beide begeistert von der herrlichen, noch weitgehend unzerstörten Landschaft. Städte und Dörfer sind zwar vollständig polnisch geworden, aber wenigstens die verbliebene Bausubstanz aus der deutschen Zeit ist immer noch unübersehbar und wird nun auch von den neuen Bewohnern geschätzt und nach den Möglichkeiten zunehmend gepflegt. Jedenfalls hatten wir den Eindruck, daß sich die Polen in der Grafschaft Glatz inzwischen ganz zuhause fühlen. Deutsche oder englische Sprachkenntnisse haben wir, abgesehen von den Reiseführern und Hoteliers nur vereinzelt angetroffen. Alle Hinweisschilder und Aufschriften, auch in den Touristenzentren, sind ausschließlich auf polnisch. Trotzdem sind wir beim Einkaufen im Tante-Emma-Laden oder beim Busfahren mit dem Linienbus leidlich gut zurechtgekommen. Der öffentliche Busverkehr ist übersichtlich organisiert, die Fahrzeuge sind zwar meist uralt, dafür überraschen die niedrigen Fahrpreise. Essen und Trinken sind ausgezeichnet und für uns sehr preiswert, auch die Unterkunft in der kleinen Pension hatte fast schon westliche Standard. Die Polen sind unaufdringlich und freundlich zu uns gewesen. Dort wo sie wenig oder keine Erfahrung mit Touristen hatten, sind sie zurückhaltend und manchmal etwas unsicher. Wir haben nie irgendwelche Belästigung oder gar Bedrohung erlebt. Eine Reise nach Schlesien heute kein Abenteuer mehr!